Daily-Telegraph-Affäre

Daily-Telegraph-Affäre
I
Daily-Telegraph-Affäre
 
Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte bereits wiederholt durch spontane öffentliche Äußerungen in großsprecherischem Ton außenpolitische Verstimmungen verursacht und in der Weltöffentlichkeit den Eindruck verstärkt, dass die deutsche Politik militaristisch und auf Konfrontation ausgerichtet sei.
 
Am 28. Oktober 1908 erschien im Londoner Massenblatt »The Daily Telegraph« ein Interview, das nach Gesprächen des Monarchen mit einem britischen Offizier anlässlich eines privaten Urlaubs zusammengestellt worden war. In diesem Interview hob der Kaiser sein ständiges Bemühen um ein freundschaftliches Verhältnis zu Großbritannien hervor, mit dem er jedoch in Deutschland nahezu allein stehe. Er empfinde es als persönliche Kränkung, dass auch die Briten seinen Sympathiebekundungen mit Argwohn begegneten. Er habe während des Burenkrieges einen Kontinentalbund zwischen Deutschland, Frankreich und Russland gegen Großbritannien verhindert. Er habe sogar der britischen Königin Viktoria, seiner Großmutter, einen von ihm ausgearbeiteten Feldzugsplan zugesandt, der dem britischen General Roberts in Südafrika offensichtlich zum Erfolg über die Buren verholfen habe. Der Bau der deutschen Flotte sei nicht gegen die Briten gerichtet, sondern allein zum Schutz des deutschen Welthandels geplant. Sicherlich würden die Briten eines Tages über eine deutsche Flottenhilfe im Pazifik froh sein.
 
In Großbritannien rief das Interview Empörung hervor, besonders die naive und zugleich anmaßende Behauptung des Kaisers, mit seinem Feldzugsplan den Burenkrieg entschieden zu haben. Als unaufrichtig wurde sein Werben um die Sympathie der britischen Nation zurückgewiesen, weil er an dem forcierten Flottenbau festhalte, wodurch auch Großbritannien zu hohen Rüstungsanstrengungen und finanziellen Ausgaben gezwungen werde.
 
In Deutschland führte die Veröffentlichung des Interviews zu einer ersten großen Krise des monarchischen Systems und einer heftigen Debatte im Reichstag, in der dem Kaiser vorgeworfen wurde, mit seinen selbstgefälligen Bemerkungen dem Ansehen des Reiches und der deutschen Monarchie Schaden zugefügt zu haben. Auch den Reichskanzler von Bülow traf ein Großteil der Schuld am Zustandekommen dieses Interviews, da er den Text ungelesen weitergegeben hatte. Der Reichstag nutzte jedoch nicht seine Chance, dem Reichskanzler das Misstrauen auszusprechen und damit den Weg zur Parlamentarisierung der Reichsverfassung einzuschlagen.
II
Daily-Telegraph-Affäre
 
['deɪlɪ'telɪgrɑːf-, englisch], Verfassungskrise um Kaiser Wilhelm II., ausgelöst durch die Veröffentlichung seiner Gespräche mit englischen Freunden (1907) im »Daily Telegraph« vom 28. 10. 1908. Der Kaiser hatte gesagt, er sei ein Freund Englands, stehe aber mit dieser Haltung in Deutschland in der Minderheit; während des Burenkriegs habe er die Bildung einer antibritischen Kontinentalkoalition verhindert und Königin Victoria einen Feldzugsplan zukommen lassen. Diese Äußerungen wurden in Großbritannien als Anmaßung empfunden, in Frankreich und Russland als ernsthafte Störung des Dreierverbands aufgefasst. In Deutschland erhob sich ein Sturm der Entrüstung um Person und Rechte des Kaisers, dem ein mit der Verfassung nicht übereinstimmendes persönliches Regiment vorgeworfen wurde, obwohl er den Text vor Veröffentlichung korrekt Reichskanzler B. von Bülow zu einer politischen Prüfung vorgelegt hatte, die dann nur unzureichend vorgenommen worden war. In der Reichstagsdebatte vom 10./11. 11. 1908 wandten sich alle Parteien gegen den von Bülow trotz der eigenen Fahrlässigkeit nur unzulänglich verteidigten Monarchen. Dessen Vertrauen in den Reichskanzler war stark erschüttert, sodass eine Entlassung nur noch eine Frage der Zeit war. In einer öffentlichen Erklärung sagte Wilhelm II. für die Zukunft politischer Zurückhaltung zu.
 
 
W. Schüssler: Die D.-T.-A. (1952);
 W. J. Mommsen: Großmachtstellung u. Weltpolitik. Die Außenpolitik des Dt. Reiches 1870 bis 1914 (1993).

Universal-Lexikon. 2012.

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